Wie viele Gipfel kann man an einem Tag in der Sächsischen Schweiz ersteigen? Gute Frage! Manchmal sind es uralte Wetten, die einem zu Höchstleistung anspornen. Gunnar hat letzten Sonntag es mit 100 Gipfeln versucht. Ob er es geschafft ist, kann man in seinem Bericht nachlesen.
6. Mai 1984. Mit Töwi und Achim sind wir im Bielatal klettern. Die anderen schlafen noch. Ich möchte klettern. Ich beschließe, allein ein paar Gipfel zu sammeln, ehe die anderen wach werden. Nach 1 Stunde und 13 Minuten habe ich 13 Gipfel zusammen. Beim Frühstück diskutieren wir dann, ob man 100 Gipfel an einem Tag schaffen kann. Ich sage ja, rechne dazu einfach die Zahl der gemachten Gipfel mit der entsprechenden Zeit hoch. An diesem Tag wetten wir um eine Flasche Rosenthaler Katarga, dass es machbar ist.
Frühjahr 2007. 23 Jahre sind seit der Wette vergangen. Ich bilde mir ein, irgendwo gelesen zu haben, dass es irgendjemand vor ein paar Jahren gemacht hat. Stand es nicht im SBB-Heft? Hin und wieder haben wir uns an die Wette erinnert, aber es war nie mehr ein großes Thema. Erst als Tillmann, der von der alten Wette gehört hat, mich anspricht und meint, dass dies nicht geht, erwacht der alte Ehrgeiz. Ich nehme den Kletterführer und zähle die Gipfel, die sich im Bielatal mit I oder II ersteigen lassen. Schwerer muss man gar nicht klettern, meine ich. So wie bei ihm die Zweifel an der Machbarkeit schwinden, so festigt sich bei mir die Überzeugung, es zu probieren. Außerdem bin ich jetzt 40, da muss man sich langsam selbst beweisen, dass man noch aus dem Sessel hochkommt.
Tilmann und Frank wollen mitmachen. Um dem Chaos am Felsen zu entgehen beabsichtigen wir einen Wochentag zu wählen. Wir planen den 29. Juni, einen Freitag. Ein paar Tage vorher checke ich den Wetterbericht. Mist, das Wetter wird schlechter, der 29. wird wohl verregnet sein! Was tun? Danach wollen Elke und ich in Urlaub, noch später werden die Tage schon wieder kürzer. Vorziehen auf den Sonntag zuvor, also morgen? Ich versuche Frank und Tilmann zu erreichen. Frank ist in Kempten zum Wettkampf, bei Tilmann nur der Anrufbeantworter erreichbar. Alleine gehen? Das Risiko ist höher, im Zweifel ist niemand da, der helfen kann. Andererseits kann man sein eigenes Tempo wählen und es ist näher am „by fair means“, wenn man jeden Strick selber durch die Öse zerren muss.
Ich werde es versuchen.
Tilmann meldet sich doch noch, muss aber arbeiten. Egal, der Entschluss steht.
Ich gehe meine Planung durch. Bei meinen Besuchen im Bielatal im Frühjahr habe ich festgestellt, dass der Weg zwischen den Gipfel zeitbestimmend ist, weniger das klettern eines einfachen Weges. Auf der Karte kreise ich daher Gruppen zusammenstehender einfacher Gipfel ein. Ich werde das Fahrrad mitnehmen, um schneller zwischen den Gruppen zu sein. Und einen Helm aufsetzen, dass gibt wenigstens etwas Sicherheit… Abend um 21 Uhr bin ich auf dem Parkplatz an der Ottomühle. Ich nutze das letzte Tageslicht, um meinen Plan noch einmal durchzugehen. Start 3:30, so dass ich mit der ersten Dämmerung einsteigen kann. Die linke vordere Talseite um die Herkulessäulen werde ich mir bis zum Schluss aufhaben, da ich dort die Gipfel und Wege kenne. Wenn ich vormittags im hinteren Teil klettere kann ich die Mittagspause am Kiosk machen. Wenn es stimmt, dass die 100 schon mal gemacht sind, dann werde ich die Messlatte bei 101 legen. Meine Auswahlliste enthält etwa 115 Gipfel, unterteilt in „Plichtgipfel“ bis zur III und „Kürgipfel“, letztere mit AW IV oder aus anderen Gründen zweifelhaft.
An Schlaf ist kaum zu denken. Pünktlich 3:30 fällt die Autotür in Schloss.
Es geht los. Das erste Ziel ist die Gruppe um den Stumpfen Turm. Mit dem Fahrrad bin ich schnell am Abzweig zur Eislochhöhle. Nur – es ist stockdunkel, und welcher Gipfel ist hier welcher!? Ich stolpere durch den Wald, vor, zurück, wieder vor. Aha, dies muss der Spannagelturm sein. Also 100 Meter weiter. 3:55 steige ich im Licht der Stirnlampe am Alten Weg des Stumpfen Kegel ein.
53, 54, 55 klettere ich mit Stirnlampe, dann ist es hell genug. 57, 58, 59, 60.
Der Spannangelturm, die 61, ist der erste Kürgipfel. Machen? Na los! Ich klettere unsicher, bin froh, dass ich schließlich oben bin. Die Nerven flattern, obwohl es nur IV ist. Aufgeben? Jetzt schon? Ich mache 10 Minuten Pause. Am Rabenturm (62) finde ich meine Ruhe wieder.
Dann die Gruppe an der Verlassenen Wand. 63, 64, 67, 68, 69. 71, 73. Absteigen zur 72, Sprung 2 mit Selbstsicherung und zurück zur 73. Zwischendurch auf der Suche nach der 66 lande ich kletternd auf einem Massiv, aber nicht am Gipfel.
75 ist die Verlassene Wand selbst. Aber wo ist die Abseilöse? Ich kann sie nicht finden und steige den Alten Weg III zurück. 76, 77. Pause. Weiter.
Die Glückstürme bringen Optimismus zurück. Dicht beieinander, übersichtlich. 80 bis 88, am Morschen Kopf über einen Überhang IV am Ausstieg. Bisher habe ich alle Kürgipfel mitgenommen. Ich beschließe, die Gruppe am Nymphenbad komplett auszulassen, da die Gipfel ziemlich oben am Hang stehen und ich Angst habe, mich auf den Wegen zwischen den Gipfeln zu verausgaben. Von den Glückstürmen wechsle ich direkt zu den Griechen. 140, 141, 142, 139, 136, 137. Um 10:27, zurück am Grenzübergang, begegne ich den ersten Menschen an diesem Tag. Ich finde, ich bin gar nicht schlecht in der Zeit.
Mein letztes Ziel im hinteren Teil ist die Gruppe an den Grenztürmen. Ich irre durch den Wald, finde schließlich einen Gipfel. Also hoch, um mich zu orientieren. Der Alte Weg an der Einsamen Nadel ist eine überhängende IV, die nicht auf meiner Liste steht. Auch gut, ein Gipfel mehr und die Orientierung wiedergefunden.
Die Grenztürme sind lang. Nur II, aber 30 Meter dauern länger als 10 Meter.
Dennoch, es geht voran. 149, 147, 148, 145, 146, 144. Dann Wechsel zur Gruppe am Titan. 150, 151, 152, 153. An der 154 wieder Sprung mit Selbstsicherung.
Jetzt zur Ottomühle zur Mittagspause. Das Tal runter rollt das Fahrrad von alleine mit 30 km/h. Unterwegs begegne ich Uta und Wulf. 46 Gipfel habe ich, fast Halbzeit. Zwischen 11:33 und 12:03 lasse ich es mir am Kiosk gut gehen.
Ich beschließ, den Rucksack jetzt am Auto zu lassen und nur noch mit Kletterzeug und Führer die nächsten Etappen zu machen. Das Öffnen der Autotür kostet mich allerdings 3 Euro, weil der Parkplatzwächter das einzige Auto erkennt, welches vor ihm da war.
Am Johanniskegel waren wir vor wenigen Wochen. Ich hatte 10 Gipfel testweise auf Zeit geklettert, dabei 1:03 gebraucht. Heute allerdings habe ich das Gefühl, dass sich alle Kletterer hier und nirgendwo anders versammelt haben.
Alles voll!
Es ist zwar nicht die nette Art, aber an 2 Wegen drängle ich mich zwischen Seilschaften. Das Problem einer blockierten Abseilöse wird durch Abseilen an einem Felskopf gelöst. Ich komme halbwegs zügig voran, habe mir aber bestimmt keine Freunde gemacht. Weiter geht’s. Die nächsten Gipfel sind frei und gehen zügig. Schnell den Kletterführer wieder mitnehmen und als letztes in der Gruppe zum Schusterturm. Kletterführer? Wo ist der Kletterführer??? Den hatte ich doch hier oben auf den Block gelegt, und da liegt es jetzt nicht mehr! Ich frage in der Nähe herum, aber der Führer bleibt verschwunden. Mit ihm der Plan der zu machenden Gipfeln, der Zettel mit den bisherigen Zwischenzeiten und den gemachten Gipfeln. 55 Gipfel habe ich, soll dies jetzt der Grund fürs Aufgeben sein? Den AW auf den Schusterturm kenne ich, im Auto habe ich noch den Kompaktkletterführer, den Plan grob im Kopf. Also los! 224, 222, 223, 226, 225, 228, 230, 231, 227, 232 sind abgehakt. Am Auto schnell etwas trinken, dann weiter zur Gruppe am Osterkegel.
Das Gelände dort ist unübersichtlich. Lauter dreckige, grüne Spitzen. Was davon sind Gipfel? Was besteigbar? Ein bestiegener Gipfel entpuppt sich als Massiv. Ein anderer Gipfel ist zu grün, einen weiteren finde ich nicht. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Mist, da muss ich ja die ganze Qual irgendwann noch mal machen. Es bleibt aber bei einem kurzen Schauer. Statt geplanter 6 Gipfel mache ich 5, dabei auch den total nassen AW auf den Herbstturm, als nasse, grüne V der sicher schwerste Weg des Tages. 171, 172, 165, 168, 167 sind gemacht. Nichts wie weg hier!
177, 176, 175 sind trocken. Weiter Richtung Zinnen. Eine Nachsteigerin bindet sich ein. Welcher Gipfel ist das? Rumpelstilzchen. Aha, AW I. Seil auf den Block gelassen und hoch. Nanu, schwer. Links in der Talseite sieht es besser aus. Das war nie eine I! Ich frage den Vorsteiger, ob dies Rumpelstilzchen ist.
Nein, Harmonienadel. Alter Weg III, und keine leichte, zumindest nicht nach 61 Gipfeln! Darf ich an seinem Seil abseilen? Er geht mich an wegen meines Leichtsinns, meiner Ahnungslosigkeit wo ich bin, wegen der Tatsache, das Seil unten gelassen zu haben, nicht umgekehrt zu sein, als ich merkte, dass es schwer wird. Recht hat er. Ich steige zurück. Wahrscheinlich hat er jetzt mehr Schiss als ich, er will mir ein Seil von oben geben. Zu spät, ich habe keine Hand mehr frei um mich einzubinden.
179, 180, 181, 182, 283, 185, 184, 190, 186, 187, 188. Die Zeit vergeht schneller als geplant, was darauf hindeutet, dass ich langsamer werde. Es ist 17:00, ich bin seit über 13 Stunden unterwegs. 75 Gipfel sind gemacht, 25 brauche ich noch. Der Parkplatz leert sich. Mal schnell noch, erschöpft, 25 Gipfel zum Abend? Wieder überlege ich abzubrechen. Nach einer halben Stunde Pause breche ich auf Richtung Herkuleswand.
Der erste Gipfel nach der Pause ist eine Qual. Dann werden die Bewegungen langsam wieder flüssiger. 13, 14, 15, 19, 20, 22, 23, 25, 28, 29, 31, 32, 33, 36, 37. Wieso habe ich die 16 vergessen? Wo steht die 34, die 35? Die Gruppe am Dachstein bringt 7 Gipfel, das heißt die Gipfel werden knapp, wenn ich es bis dahin auf 94 bringen will. Mittlerweile ist es 19:30. Anstatt Gipfel zu suchen werde ich hier abbrechen, noch einmal die Talseite wechseln und an den Wiesensteinen die leichten Gipfel machen. 221, 220, 214, 215. Damit bin ich bei 94. Es kann zum Endspurt gehen!
Heimisches Gelände. Die Wege vertraut. Dennoch quäle ich mich, vor dem Alten Weg am Großen Mühlenwächter habe ich wie immer Respekt. 48, 47, 46. Jetzt endlich weiß ich, dass ich es schaffen werde. Dachsenstein hoch, Sprung zum Dachs. Zarathustra wird der 100. Gipfel! Ich überlege, was ich ins Gipfelbuch schreibe. Die Überlegung ist zwecklos, da das Buch fehlt. Vielleicht auf dem Junior? Dies ist der 101. Gipfel heute, die II fällt mir mittlerweile richtig schwer. Aber auch hier ist das Buch geklaut.
Das letzte Mal das Seil durch die Abseilöse. Letztes Abseilen. Letztes Seilwickeln. 21:25 zeigt die Uhr. 18 Stunden war ich unterwegs, länger als geplant, aber glücklich, es geschafft zu haben.